Yuri Kalendarev


Hans Gercke.

Openning Yuri Kalendarev: BEYOND THE SOUND

(01. Juni 2010)

ERÖFFNUNG YURI KALENDAREV: BEYOND THE SOUND (01. Juni 2010)

Galerie Annamarie M. Andersen, Zurich, Switzerland

 

Meine Damen und Herren, 

ich will meine Einführung mit einer kleinen Anekdote beginnen:

1990 kuratierte ich im Heidelberger Kunstverein zur Eröffnung von dessen Neubau eine große Ausstellung zum Thema „Blau – Farbe der Ferne“. Im Mittelpunkt standen natürlich Arbeiten von Yves Klein; verschiedene Abteilungen der Ausstellung mit diversen ikonographischen Detailuntersuchungen führten zu diesem Zentrum hin, andere gingen davon aus und mündeten in sehr unterschiedlichen Positionen zeitgenössischer Kunst.

Diese allerdings hatten eines gemeinsam, das nämlich, was ich als wesentlichen Aspekt der Farbe Blau herauszuarbeiten versuchte: die sowohl physikalisch wie physiologisch, psychologisch und ikonographisch nachweisbare Affinität dieser Farbe zur Ferne, zur Immaterialität, ihre Eigenschaft, sich zu entziehen, andere mitzureißen und damit auf eine Dimension jenseits des Materiellen und Greif-, auch Be-Greifbaren zu verweisen. Blau, so hat Goethe einmal gesagt, ist ein reizendes Nichts.

In diesem Zusammenhang interessierten mich die Arbeiten von Yuri Kalendarev, den ich schon früher nicht nur als exzellenten Bildhauer im Spannungsfeld und Grenzbereich zwischen Konstruktion und Expression, zwischen Perfektion und Fragment, kennen und schätzen gelernt hatte, sondern vor allem auch als einen Menschen, der mit unerbittlicher Hartnäckigkeit den Dingen auf den Grund, ja hinter ihre Vordergründigkeit zu kommen sucht – ich möchte fast sagen, ohne Rücksicht auf Verluste, jedenfalls ohne sich dabei selbst – und manchmal auch andere – zu schonen.

Kalendarev war 1947 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, in der damaligen Sowjetunion geboren worden, hatte am Leningrader Aircraft-Institut studiert und 1963-67 eine traditionelle Bildhauerausbildung, u.a. an der Kunstakademie Leningrad, absolviert. Im nachhinein, aus heutiger Perspektive betrachtet, kann sicher auch diese Spannweite seines Werdegangs, abgesehen von der soliden technischen Grundausbildung, als wegweisend für sein späteres Schaffen angesehen werden.

Er schloss sich der Gruppe „Aleph“ an, die sich nach dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets benannte, dem mit einem mythisch-mystischen Assoziationskontext behafteten Symbol für den Anfang, für die Weltschöpfung, für einen Beginn, der in der Bibel auf das göttliche Wort, in der Kabbala aber auf ein akustisches Ereignis zurückgeführt wird, aus dem sich die später von Kepler beschriebene und mit konkreten Tonsystemen in Verbindung gebrachte „Sphärenharmonie“ entwickeln konnte. Der Komponist Joseph Haydn hat dies auf  faszinierende Weise in seiner „Schöpfung“ zum Ausdruck gebracht, indem er die Komposition mit einem einzigen gewaltigen Unisono-Klang beginnen ließ – dem „Urknall“ sozusagen.

Dass sich Yuri Kalendarev in seinen Tuschezeichnungen, auf die ich nachher noch einmal kurz zurückkommen werde, insbesondere auf den Buchstaben „Aleph“ bezieht, aber auch auf das Wort „Schma“, „höre“,  das als hebräischer Gebetsruf eine bedeutende, in den Riten des jüdischen Tages und Jahres immer wiederkehrende  Rolle spielt, ist in diesem Zusammenhang kaum als Zufall zu betrachten.

Kalendarev, der 1974/75 an der Leningrader Nonkonformistenausstellung und den ersten Untergrund-Ausstellungen der Gruppe „Aleph“ teilgenommen hatte, erhielt bald darauf die Erlaubnis, nach Israel auszureisen. Er ließ sich 1977 im Künstlerdorf Ein Hod nieder, lehrte bis in die 80er Jahre Bildhauerei an der Universität Haifa und bereiste Afrika, Brasilien, Russland und Italien, wo er sich schließlich 1979 im Marmor-Eldorado Carrara einrichtete.

Im Zusammenhang mit meinem Blau-Projekt interessierte mich Kalendarevs Schaffen vor allem, weil er auf schwierigsten Wegen in den Brasilianischen Urwald vorgedrungen war, nicht um die legendäre „Blaue Blume der Romantik“ zu finden, sondern einen speziellen blauen Quarzit, einen wunderschönen Stein, der nirgendwo als nur dort in dieser Form vorkommt. Und mich interessierte die Paradoxität der Materialisation des Immateriellen, wie sie sich in diesem jahrmillionenalten Blau manifestierte.

Aber ich wollte Ihnen ja eine Anekdote erzählen. Die Geschichte geht so:

Als Yuri wenige Tage vor Ausstellungsbeginn am späten Abend von seiner Expedition in die blaue Ferne zurückkam, mit dem gesuchten blauen Stein, einen großen, tonnenschweren Block auf der Ladefläche seines Lkw in Heidelberg eintraf und den Block in einer großen Kiste im Park des Schlosses, dem Ort der geplanten Installation, deponierte, um am nächsten Morgen mit der Bearbeitung beginnen zu können, setzten wir uns erst einmal in der kleinen Weinstube des benachbarten Burghotels, wo ich ihn mit anderen Künstlerinnen und Künstlern untergebracht hatte, zum Abendessen, Feiern und Erzählen zusammen. Es war ein schöner, geselliger, harmonischer, anregender und ziemlich langer Abend.

Sehr früh am nächsten Morgen klingelte das Telefon. Yuri war am anderen Ende, völlig verzweifelt. Was war geschehen?

Jugendliche Rowdys hatten aus purem Mutwillen in der Nacht die auf dem Rasen gelagerte Kiste angezündet, die Feuerwehr wurde gerufen, sie löschte den Brand, und der herrliche blaue Stein zerbarst – nicht eigentlich aufgrund der Hitze, sondern infolge der brutalen Abkühlung durch das Löschwasser. Erst später wurde mir die Symbolik des Geschehens bewusst: Wieder einmal hatte sich das Blau dem Zugriff entzogen – zumindest dem ursprünglich geplanten.

Bezeichnend aber war, wie es weiterging. Yuri Kalendarev bezog das Geschehene in ein daraufhin neu entwickeltes Gestaltungskonzept ein, stellte Verbindungen her zur Zerstörung des Schlosses, zur Ruinen-Situation und der sie mitbestimmenden Natur und reflektierte damit zugleich die romantische Rezeption des sich im Bild der Ruine manifestierenden Wechselspiels von Werden und Vergehen. Er legte im Schlossgraben versteckte Blütenmuster aus, gebildet aus den Resten seines blauen Steins, und pflanzte wirkliche, lebendige, kleine, zarte Blumen in ihrem Umfeld.

Es entstand eine eher kryptische, komplexe, sehr poetische Installation, und ich bewunderte damals seine Fähigkeit, auf vorgegebene, auch gänzlich unerwartete Situationen kreativ einzugehen und ihnen mit Hilfe kleiner, unprätentiöser Akzente eine neue, unerwartete Bedeutung abzugewinnen. Seine Inszenierungen, die sich in der Folgezeit mehr und mehr mit konkreten historisch-topographisch determinierten Vorgaben befassten, mit Erinnerung und Spurensuche – so u.a. in Kiel und St. Petersburg –, bezogen immer häufiger auch ganz andere als traditionell skulpturale Elemente mit ein – Gefundenes, Geschriebenes, Texte, Klänge, Licht – und wurden in dem Maße, wie sich ihr konzeptueller Radius weitete, immer weniger als Einzelwerk, als Objekt, greifbar.

Damals auch, ich erinnere mich, sprach Yuri des öfteren davon, er sei auf dem Weg, zumindest auf der Suche, die  „invisible sculpture“, eine „unsichtbaren Skulptur“ herzustellen.

Mit seinen Klanginstallationen, so meine ich, hat er nach einer größeren, biographisch bedingten, letztlich aber schöpferisch fruchtbaren Pause, einen Weg gefunden, dieses Ideal zu realisieren, ohne freilich das Sichtbare völlig zu eliminieren.

Die Bronzeplatten, die er in harter Arbeit – Kalendarevs technisches Können als Bildhauer ist da nach wie vor unverzichtbar – mit Feuer und gezielten Hammerschlägen– jeder Schlag muss präzise gesetzt werden, keiner ist korrigierbar – so bearbeitet, dass später eine zarte Berührung genügt, um sie in erstaunlich differenzierter und nachhaltiger Weise zum Klingen zu bringen, sind trotz ihrer unleugbaren ästhetischen Qualität keine Skulpturen, zumindest nicht im konventionellen Sinn.

Sie sind aber auch keine Musikinstrumente, vielmehr tragen sie Klänge in sich, die ihnen durch minimale Bewegung entlockt werden, wenn sie durch das Pendeln der zusammen mit ihnen aufgehängten uralten, aus dem Meer geborgenen Schwemmhölzer in Schwingung versetzt werden oder auch durch die Aktion des Betrachters, der zugleich Akteur und Zuhörer ist, und damit, und darin besteht ihr eigentlicher skulpturaler Charakter, im Raum Klänge von unglaublicher Plastizität, Intensität und Dauer, Variabilität und Interaktivität entstehen lässt.

Man darf in diesem Zusammenhang durchaus an die von Joseph Beuys entwickelte umfassende Bedeutung des plastischen Gestaltens und seinen erweiterten Kunstbegriff erinnern. Diese Klänge sind immateriell, aber sie sind, und dies ist Yuri Kalendarev wichtig, natürlichen Ursprungs. Das heißt, sie sind optional der Materie immanent – man könnte sich an Dürers berühmtes Wort erinnern, das da besagt: „Die Kunst steckt in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie.“

Sie sind vor allem aber nicht synthetisch, keine digital erzeugten Kopfgeburten – in dieser Hinsicht unterscheidet sich Yuri Kalendarev fundamental von den meisten seiner ebenfalls mit Klängen arbeitenden Kolleginnen und Kollegen. Und sie beeinflussen auch nicht nur einander, indem eine bewegte Klangplatte auch andere zum Klingen bringt, wobei Frequenzen und Rhythmen einander nicht nur ergänzen und überlagern, Obertonpyramiden, Akkorde, Interferenzen und Kombinationstöne hervorbringen, sondern sich auch wechselseitig angleichen – nein: Sie bringen auch uns selbst zum Schwingen, nachweislich bis in die Mikrostrukturen unserer Körperzellen hinein, weswegen solche Klänge heute mit Erfolg auch therapeutisch angewandt werden.

Dabei ist zu vermuten, dass uns nicht allein die Klänge beeinflussen, die wir hören, sondern darüber hinaus auch andere, die da sind, die wir vielleicht spüren, aber nicht hören können, denn  unserer akustisches Wahrnehmungsspektrum ist ja bekanntlich begrenzt. Hier wird unser Inneres, Innerstes, werden Physis und Psyche auf eine Weise stimuliert, die sich allerdings grundlegend unterscheidet von den stupiden und brutalen, nachweislich gehörschädigenden Attacken der für viele, namentlich jugendliche Zeitgenossen omnipräsenten akustischen Vergewaltigung und Umweltverschmutzung via Walkman und Kopfhörer.

So artikuliert sich Yuri Kalendarevs Kunst heute in konsequenter Weiterentwicklung schon vor Jahren begonnener Grenzüberschreitung, in einem höchst komplexen Spannungsfeld aus physikalischen, konzeptionellen, physiologisch-medizinischen und psychologischen, musikalischen und skulpturalen, therapeutisch relevanten, vor allem aber poetischen Elementen, im Agieren und Reagieren, in Aktion, Rezeption und Reflexion.

Dabei ist, andererseits, alles doch auch sehr einfach, sehr unmittelbar. Diese Kunst braucht keine langen Erklärungen, sie wirkt direkt, geht im wahrsten Sinne „unter die Haut“, spricht auch Menschen an, die sich keine Gedanken machen, ob dies nun Kunst sei oder nicht und warum oder warum nicht...

Viele Arten von Kunst erreichen den Rezipienten heute wie eh und je nur mittelbar und auf Umwegen. Hier aber sind, was die „Skulptur des Klanges“ betrifft, Produktion und Rezeption gleichermaßen elementare Primärereignisse.

Elementar, wenngleich auf andere Weise, sind Kalendarevs Zeichnungen – ist das Medium Zeichnung ganz generell, denn Zeichnung entsteht aus ähnlicher Gestik und Agogik wie der Klang, aus der Belebung von Materie durch Bewegung, wenngleich es hier nicht der Betrachter ist, der die Zeichnung produziert. Dennoch besteht hier eine Verbindung zu den Klängen, ihrer Erzeugung und ihrer materiellen Basis, die nicht in einer zufälligen formalen Entsprechung besteht.

Schon auf den ersten Blick ist der ostasiatische Einfluss ersichtlich, der auch bei den Klängen und den Klangerzeugern eine Rolle spielt. In der Tat hat Yuri Kalendarev Unterricht bei einem chinesischen Schreibmeister und einem japanischen Mönch genommen. Er arbeitet mit japanischer Tusche und auf Japanpapier. In Ostasien gilt die Schriftkunst wegen der Spontaneität und Dynamik ihres Entstehens, die zugleich Konzentrat intensiver, Erinnerung und Entwicklung umfassender Erfahrung ist, aber auch der in ihr realisierten Identität von Bild und Begriff, als die ranghöchste aller Kunstgattungen. Mit „Kalligraphie“, „Schönschrift“, ist diese Kunst, die es unternimmt, dem Sinn eines Schriftzeichens im subjektiven Vollzug lebendigen Ausdruck zu verleihen, nur höchst ungenügend beschrieben.

Kalendarev ist nicht dem Fehler verfallen, die ihm fremden ostasiatischen Schriftzeichen zum Ausgangspunkt seiner Arbeit zu machen. Aber er hat, mit bemerkenswerten Ergebnissen, versucht, Elemente und Methoden dieser Tradition auf die eigene Kultur, auf russische und hebräische Schrift anzuwenden, auch wenn die hier verwendeten Zeichen nicht vergleichbar sind mit den chinesischen Wort-Symbolen. Immerhin umschließt auch der hebräische Buchstabe, wie bereits ausgeführt, über die Bezeichnung eines Lautwerts hinausgehende inhaltliche Perspektiven. Und das körperliche Agieren beim Schreiben ist vergleichbar dem, das die Klänge entstehen lässt. Erleben Sie selbst, in welcher Wechselwirkung beide Kunstäußerungen im Schaffen dieses Künstlers zu einander stehen.

Die Ausstellung, meine Damen und Herren, trägt den Titel „Beyond the Sound“. Es geht also gar nicht in erster Linie um den Klang als solchen, sondern um etwas, das „dahinter“ erahnbar wird, den Urgrund, aus dem nicht allein der Klang, sondern alles kommt – Aleph.

Die Verwurzelung dieser Kunst in der jüdischen Mystik ist unverkennbar, auch ihre Bildlosigkeit passt  hierzu „ins Bild“ – „invisible sculpture“. Yuri Kalendarev erwähnte mir gegenüber, seine nächste Ausstellung werde vielleicht heißen „Beyond the Mind“. Zumindest im Blick auf ein traditionelles Kunstverständnis könnte man – angesichts eines sich ständig wandelnden und weitenden Kunstbegriffs – auch feststellen, Kalendarev operiere bereits heute „Beyond the Art“.

Zürich, 1. Juni 2010

Hans Gercke.